Der Dammbau zu Rügen
Heute sieht man ihn nicht mehr, aber vor langer Zeit hatte die Insel Rügen einen echten Riesen. Das war ein netter Kerl, doch weil er so groß war, hatten die Leute Angst vor ihm und mieden ihn wie die Pest. Dabei kam er fast um vor Einsamkeit und Langeweile.
Drüben, bei Stralsund, war mehr los, da lebten auch noch andere Riesen, mit denen er Spaß haben konnte. Zu ihm konnte allerdings keiner kommen, die Insel wäre ja schon bei dem Gewicht von nur zwei Riesen glattweg untergegangen.
Allzu oft konnte der gute Riese auch nicht nach Stralsund herüber waten. Er bekam selbst im Sommer schnell einen Schnupfen, im Herbst und Winter aber wurde er im kalten Wasser bitter krank.
Das war kein Spaß! Nicht nur, daß er sich hundeelend fühlte, kaum schneuzte er sich, kam Windstärke zehn auf und wenn er gar niesen musste, tobte gleich ein böser Orkan. Schiffe kenterten, Häuser wackelten und der Riese schämte sich, den Menschen so ein Pech zu bringen.
Wie der Riese aussah? Oh, hoch wie ein Berg war er. Wie eine alte Kiefer ragte die Nase aus dem gutmütigen Gesicht hervor und seine Augen waren groß und grün wie Ententümpel. Ein Wust hellbrauner Haare wallte auf seine mächtigen Schultern herab, darin hätte ein Rudel Rehe Platz gefunden. Er war schon ein prächtiges Mannsbild!
Einmal, an einem warmen Sommermorgen, wagte er sich wieder einmal nach Stralsund. Der Riese hatte sich für die Überquerung des Wassers dick in Schafsfelle eingemummt und schwitzte tüchtig. Er kam an Land und dabei spritzten die Tropfen nach allen Seiten. Die Stralsunder reckten die Köpfe nach dem Regenbogen, der doch bei Sonne und Regen am Himmel erscheint. Der kam aber nicht, und der kurze Schauer hörte auch gleich wieder auf, nachdem der Riese seine Füße warm und trocken gerubbelt hatte.
„Oijoi!“ seufzte der Riese, „so kann es doch nicht weitergehen. Ich bin es leid, immer so viel Pech auf dem Gewissen zu haben, nur weil ich wieder aufs Festland will!“ Bedrückt starrte er in die Gegend und hoffte auf ein Wunder.
Da kam eine junge Riesin vorbei und fragte: „Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen? Du schnaufst ja zum Erbarmen!“ Der Riese klagte ihr sein Leid. „Wenn`s weiter nichts ist“ lachte die Riesin, „da, bind dir meine Schürze um und fülle sie zu Hause ganz voll mit Erde. Dann schüttest Du dir einen Damm auf, ganz einfach!“
Der Riese staunte. Dann sprang er mit einem Juchzer auf, band sich ihre Schürze um und lief nach Rügen zurück. Der Sandstrand war ihm zu schade zum Verbauen. Im Inneren der Insel wusste er eine passende Sandhalde. Dort tat er, wie sie ihm geheißen und füllte die Schürze voll mit Sand. Ihr könnt Euch vorstellen, wieviel Erde in die Schürze der Riesin hinein gepasst hat? Sie war kaum kleiner als der Riese geraten, das kann ich Euch sagen und hübsch war sie auch. Kastanienbraune Locken und grünblaue Augen, die ihm wie Sternschnuppen entgegen geleuchtet hatten. Der Riese strahlte bei der Erinnerung, dann marschierte er los, doch als er bis Rothenkirchen gekommen war - Ritsch!- riss die Schürze und aus dem Loch rieselten neun Berge heraus.
Wie konnte das passieren? Nun, die hübsche Riesin war um einiges schlanker als unser Riese und mit der ganzen Erde darin spannte die Schürze so sehr, daß die Naht nicht mehr hielt. Der Riese riss eilig einige Sträucher heraus und stopfte das Loch damit zu und stapfte weiter. Doch – Ratsch! die Schürze riss ein weiteres Loch bei Gustow und jetzt rieselten gleich dreizehn kleine Berge heraus. Oh je! Der Riese rannte so schnell er konnte ans Meer und watete hinein und begann zu schütten. Er kam bis kurz vor Stralsund. Es reichte noch für den Prosnitzer Hafen und die Halbinsel Drigge, ein Damm wurde es aber nicht mehr und immer noch blieb genügend kaltes Wasser übrig, um sich eine Erkältung einzufangen.
Da stand er nun dumm im Salzwasser und glotzte zum Festland. Dort aber lachte die Riesin vom Ufer schallend herüber: „Komm rüwwer, min Jung!“ rief sie „und smiet die Schürze man levver gleich wech!“ Der Riese ließ sich das nicht zwei Mal sagen! Er riss sich die Schürze hinunter, die trieb davon, bis Grönland oder so, er aber lief zu der Riesin und Arm in Arm gingen die beiden lachend davon.
Seit dem gibt es auf Rügen keinen Riesen mehr, aber es heißt, daß die Zwerge in die neun Berge gezogen sind und seit dem darinnen ihr Wesen treiben.
(Nacherzählung von Catharina Lentes)